Die Unfreiheit des Wortes
11 Journalisten getötet.
542 Journalisten in Haft.
„[…] Also sie ist wegen eines Films im Gefängnis, den sie nie gemacht hat.“
„Scheiß Antifa-Presse.“
„Dann gab es einen gewaltvollen Durchbruch.“
Liest du gerne Zeitung?
Schaust du Fernsehen?
Bist du im Internet?
Kennst du den Begriff „Lügenpresse“?
Überall begegnen uns Journalisten, man kommt an ihnen praktisch nicht mehr vorbei. Ich schalte zuhause das Fernsehen ein – zack! Schon einer zu sehen. Oder ich bekomme meine Wochenzeitung, auch das Werk vieler verschiedener Köpfe. Manchmal klicke ich gelangweilt auf „YouTube“ und sehe ein ZDF-Journal neben einem „Arte“-Beitrag.
Mein größter Kindheitstraum war es immer, Journalist zu werden: Du bist im Fernsehen, reist viel, triffst Menschen und kannst das Schreiben zu deinem Beruf machen. Doch in letzter Zeit habe ich große Zweifel.
Wer ist schuld daran?
Meine Antwort: Unsere Gesellschaft.
Lass mich dich auf ein Gedankenexperiment mitnehmen: Stell dir eine Welt ohne Journalismus vor. Ohne „Tagesschau“, ohne die „Zeit“ und die „FAZ“. Eine Welt ohne Beiträge der ARD und des ZDF. Du schaltest die Mattscheibe zuhause ein und es läuft entweder ein Spielfilm oder eine neue Folge von „Wer wird Millionär“. Du hast nachmittags nichts zu tun und scrollst durchs Internet. Was findest du? Einen neuen Blog deines Lieblings-Influencers vielleicht oder Werbung von „Kaufland“. Zocker-Streams reihen sich an Musikvideos, Tutorials sind gleich auf mit Prank-Videos. Alles normal?
Nun stelle dir aber auch eine Welt ohne Nachrichten vor. Du hast keine Ahnung, was außerhalb deines Bekanntenkreises so los ist. Feiert die Stadt nächste Woche ein Fest zum Gedenktag eines bekannten Künstlers? Kommt bald deine Lieblingsband nach Deutschland? Bricht in den USA gerade das Staatssystem zusammen?
Stelle dir auch eine Welt ohne Bildungsfernsehen vor. Wie gefährlich sind PFAS wirklich? Gibt es bald ein Mittel gegen Leukämie? Wie weit ist die Forschung beim Thema „Nachhaltigkeit“?
Vielleicht gefällt dir diese Welt, weil sie dich nicht mit Horror-Szenarien aus Syrien, der Ukraine oder China überschüttet. Wir alle brauchen von Zeit zu Zeit eine Erholung von Hiobsbotschaften und die Nachrichten sind voll davon.
Aber möchtest du in einer Welt der Ungewissheit leben? Möchtest du immer auf das vertrauen müssen, was deine Lehrer oder deine Chefs dir erzählen? Willst du dich mit „Hat mir halt jemand gesagt“ zufriedengeben?
Wenn wir von „Pressefreiheit“ sprechen, haben alle immer das Gefühl, Deutschland sei da „außen vor“. Bei uns dürfen alle alles berichten, dürfen sich auf ein Podium stellen, das Mikrofon in die Hand reißen und klagen, dass sie sich unter den Covid-Maßnahmen wie Sophie Scholl fühlen würden. Andere Länder sind die Bösen. Russland, die Türkei oder China, sie sperren die wehrlosen Journalisten ein, weil diese ein paar Zeilen über Menschenrechte verfasst haben.
Aber kann man die Schuld so von sich wegschieben?
Ist Deutschland das Vorbild, für das es alle halten?
Ich wollte es wissen:
An einem langweiligen Sonntagvormittag schnappte ich mir meinen Laptop und fing an zu googeln: „Übergriffe auf Journalisten Deutschland“.
209 000 Ergebnisse in 0,4 Sekunden.
Allein die Masse an Einträgen erschreckte mich. Berichte über Schlägereien, Beleidigungen und Anspucken waren keine Seltenheit. Die freie Organisation „Reporter ohne Grenzen“ (RSF) berichtete seitenweise über solche Taten, die sich innerhalb der letzten Jahre zugetragen haben.
Journalist sein bedeutet nicht, am Laptop zu sitzen und den ganzen Tag auf die Tastatur zu hämmern. Sicherlich sind auch solche Tage dabei, doch Journalisten gehen raus in die Welt: Sie sprechen mit den Menschen, machen Videos und Filme und schauen wichtigen Personen über die Schulter. Sie verbinden die sonst eher entfernt wirkende Regierung mit dem letzten Hinterdorf in der Pfalz, sie berichten einem Opa Frank Müller aus Unterbayern, dass Russland die Ukraine angegriffen hat. Sie fordern Menschen auf, umzudenken, auch wenn dieses Umdenken Kraft kostet.
Ist das nicht ein verdammt wichtiger Job?
Woher soll Opa Frank denn sonst wissen, dass er am besten seine jährliche Spende an Kinder in Ruanda schicken soll, die gerade bei einer Flutkatastrophe alles verloren haben?
„Aber Deutschland unterdrückt die Presse ja nicht strukturell.“
Tut es das nicht?
Was ist denn „strukturelles Unterdrücken“?
Nur ein Unterdrücken, das durch die Regierung beauftragt und durchgeführt wird? Oder sind nicht vielmehr Wir ein Teil der großen Struktur?
Viele Fragen und über die Antworten lässt sich streiten. Man muss unterscheiden zwischen dem, was in Russland passiert, wo Menschenrechtsaktivisten ins Straflager geschickt werden. Und auch zur Türkei, wo Kulturbefürworter in den Knast kommen, weil sie sich für die Erhaltung verschiedener Kulturen einsetzen und sich gegen ein autokratisches Regime auflehnen, ist – hoffentlich – noch viel Abstand.
Aber die Zahlen der RSF machen es deutlich: 2022 wurden weltweit 11 Journalisten und ein Medienmitarbeiter getötet, weitere 542 Journalisten sind in Haft und 21 Medienmitarbeitern geht es nicht besser. Mir vergeht da die Lust am Schreiben. Dabei wird nicht umsonst die „Presse“ als „vierte Gewalt“ bezeichnet. Denn in einer Demokratie – die in Deutschland glücklicherweise existiert – herrscht nochmal wer?
Die Bevölkerung, richtig. Und das sind wir.
Wir wählen alle vier Jahre die Bundesregierung, wir bilden Streiks, wir ziehen vor Gericht, wenn wir ungerecht behandelt wurden. Wir schicken unsere Kinder in die Schule, wir ergreifen Berufe in der Forschung und wir haben Verwandte mit schlimmen Krankheiten.
Wenn wir unsere Entscheidungen vernünftig treffen wollen, müssen wir wissen, was in der Welt gerade abgeht.
Was hat die Ampel entschieden?
Was bedeuten diese Studien eigentlich?
Nachdem du mir bis zu diesem Punkt gefolgt bist, wirst du meine nächste Frage sicherlich gut verstehen: Warum – verdammt nochmal! – gehen so viele Menschen deutschlandweit mittlerweile auf Journalisten los?
Journalisten müssen sich mit „Scheiß Antifa-Presse“ oder „Lügenpresse“ beleidigen lassen, sie sind auf Demonstrationen Gewalt ausgesetzt dafür, dass sie ihren Job machen. Die „Tagesschau“ berichtet von einer Journalistin, die sich auf einer Demonstration in Leipzig Neonazis mit Feuerwerkskörpern und Flaschen in der Hand gegenübersah. Ein ziemlich armseliges Zeugnis für unsere tolerante, friedvolle Gesellschaft, auf die wir alle so stolz sind.
Eine Gesellschaft, eine Gemeinschaft, sollte diejenigen schützen, die informieren. Denn ohne die „Presse“ könnte die Bundesregierung wer weiß was entscheiden, ohne, dass es jemand mitbekommen würde. Bis eine politische Entscheidung zu allen Deutschen durchgedrungen wäre, würde viel Zeit vergehen. Und selbst dann wäre nicht garantiert, dass diese potenzielle Nachricht vom Ende der Welt auch der Wahrheit entspricht.
„Hat mir halt jemand gesagt“ wäre das neue Infomaterial.
Also an alle, die Übergriffe an Journalisten mitbekommen, oder die hören, wie die ach so schlimme „Lügenpresse“ beschimpft wird: Greift ein!
Setzt euch ein für diese Menschen, die ihr Bestes tun, um uns auf dem Laufenden zu halten, die sich in andere Länder begeben und aufklären, die sich Studien durchlesen und sie auf Glaubwürdigkeit prüfen, die schließlich euren Kindern im Internet die Welt erklären.
Informiert euch.
Setzt euch für Bildung ein.
Quellen:
„Serwer Mustafajew“, Wikipedia, zuletzt bearbeitet am 8.8.2022, Autor: KastusK, abgerufen am 4.7.2023
„Barometer der Pressefreiheit 2022“, Reporter ohne Grenzen, Verantwortlicher für den Inhalt: Christian Mihr, abgerufen am 4.7.2023
„Der letzte heftige Protest gegen Erdogan“, Tagesschau, Stand: 26.5.2023 20:03 Uhr, Autor: Karin Senz, ARD Istanbul, abgerufen am 4.7.2023
„Journalistenprozesse in der Türkei“, ver.di deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union, inhaltlich verantwortlich: Monique Hofmann, abgerufen am 4.7.2023
„Lebenslange Haftstrafe für Osman Kavala bestätigt“, die ZEIT, aktualisiert am 28.12.2022, Autor: Chefredakteur Jochen Wegner, abgerufen am 4.7.2023
„Urteil gegen Osman Kavala: Wer ist der türkische Kulturförderer?“, NDR kultur, Stand: 26.4.2022, Autor: Uwe Lueb, abgerufen am 4.7.2023
„Nahaufnahme Deutschland: Pressefreiheit im Überblick“, Reporter ohne Grenzen, Verantwortlicher für den Inhalt: Christian Mihr, abgerufen am 4.7.2023
„Angriffe dürfen kein Normalfall werden“, Tagesschau, Stand: 3.5.2023, Autoren: Konstantin Kumpfmüller und Belinda Grasnick, abgerufen am 4.7.2023
Katharina Krause (MSS 12)
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