Mein ganzes Leben lang wünsche ich mir schon ein Weihnachtsbaum zu werden. Besonders schön, gerade und groß muss man dafür sein, sagen die großen Tannen. Schön und gerade bin ich, nur bin ich nicht gerade sehr groß. Es ist Mitte Dezember, nachts friert es und morgens funkelt der Frost auf meinen Zweigen. Die ersten Familien kommen schon seit Anfang November zu uns in den Wald, um sich einen schönen Baum auszusuchen. Jetzt ist es kurz vor Weihnachten und immer mehr Leute kommen. Einige bleiben bei mir stehen, laufen dann aber doch weiter. So langsam gebe ich die Hoffnung auf, ein Weihnachtsbaum zu werden. Die großen Tannen haben ja immer gesagt: „Du wirst nie ein Weihnachtsbaum, dafür bist du viel zu klein.“ Aber am Tag vor Weihnachten kommt noch ein Ehepaar mit drei Kindern. Sie laufen direkt auf mich zu und rufen entzückt: „So einen schönen Weihnachtsbaum haben wir ja lange nicht mehr gesehen!“ Kurzer Hand nehmen sie die Axt und hackten meinen Stamm durch. Dann werde ich aufs Autodach gebunden und werde in eine große Stadt kutschiert. Die Familie wohnt in einem stattlichen Haus, in dem ich direkt aufgestellt werde. Die Kinder springen um mich herum und wollen mich sofort schmücken, aber die Kleinen müssen erst einmal schlafen gehen. Am nächsten Morgen blitze und glänze ich, meine Äste hängen voll mit Christbaumkugeln und Lametta. Ich bin so stolz auf mich und freue mich sehr. Nachmittags kommen die Großeltern und erfreuen sich auch an mir. Sie bauen gemeinsam mit den Kindern die Krippe auf. Abends werden die liebevoll eingepackten Geschenke unter mich gelegt. Hier drinnen ist es so schön warm und trocken, ich fühle mich richtig wohl. Es wird ein toller Heiliger Abend. Die Kinder freuen sich über die schönen Geschenke, alle singen zusammen Weihnachtslieder und haben sehr viel Spaß. In den nächsten Tagen werden abends meine Lichter noch ein paarmal angezündet. Silvester morgen ist das Haus auf einmal leer. Keine spielenden Kinder, keine festliche Stimmung. Es ist so still und einsam hier. Auch in den nächsten Tagen taucht niemand auf. Niemand kommt um mich zu gießen, niemand bewundert mich. Ich werde müde und schlaff. Meine Nadeln werden braun und fallen langsam herunter. Kann mir denn niemand helfen? Nach einer Woche ist die Familie endlich wieder zu Hause. Ich freue mich. Aber warum gießt mich immer noch niemand? Am nächsten Tag schmückt mich die Mutter ab und der Vater kommt mit Arbeitsklamotten ins Zimmer und trägt mich raus in den Garten. Dort nieselt es frostig, und so wohlig warm wie im Haus ist es auch nicht. Ich werde auf den Kompost geworfen und von Borkenkäfern zerfressen. Weihnachtsbaum sein ist nicht gerade das Beste, aber im Wald zerfällt man ja nun mal auch irgendwann.

Hannah Schirp (6A)

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