1. Türchen: Ausblenden unmöglich

Es wäre wohl übertrieben euch zu sagen, dass mich der vieldiskutierten September-Spekulatius im Supermarkt auf die Palme bringt, von der ich einen Monat vorher noch Urlaubsfotos geschossen habe. Schon lange nicht mehr versuche ich die Voreiligkeit unserer Wirtschaft zu hinterfragen. Das Gebäck ist nicht das, was Weihnachten so unerträglich für mich macht. Zu verkraften wäre wohl auch das jährliche Abnutzen der alten Symbole vom rotnasigem Weihnachtsmann, über goldglitzernde Sterne bis hin zu „modern“ bunt blinkenden Lichterketten und anderen Klassikern, die man fast nicht mehr wahrnimmt zwischen all dem Pulverschnee und rotgold gefärbten Kitsch, der allmählich Schaufenster, Omas Garten und letztlich sogar den eignen Wohnraum erobert.
Ich könnte ebenfalls versuchen einen Monat lang, beide Augen zu schließen, einerseits um nicht geblendet zu werden von der plötzlich grell aufleuchtenden Gartendeko, die den Unterschied zwischen Tag und Nacht einen Monat lang schwerlich erkennbar macht. Andererseits in Anbetracht des immens steigenden Stromverbrauchs von Dezember bis Neujahr, den diese Lichtinvasion verursacht.
Möglicherweise könnte ich mich sogar zu Freude zwingen, dass das schlechte Gewissen unserer wohlständigen Gesellschaft wie die Feuer der sooo romantischen „dicken roten Kerzen“ zumindest einmal im Jahr aufflammt und uns zu unvergleichlichen Spendenergüssen bewegt. Mit denen wir glauben, den ganzjährigen Konsum von bekanntlich unmenschlich verarbeiteten Produkten auszugleichen, um nachdem wir uns in unserer Wohltat gesonnt haben, die Missstände der Welt wieder freimütig zu verdrängen.
Was mich zum nächsten Thema bringt, das auszublenden ich eventuell bereit wäre; den künstlichen Stress, den sich alle selbst und gegenseitig verursachen, indem sie glauben, das „eine, ideale Ding“ zu finden, wovon der andere lange geträumt hat, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Denn, dass es eine Überraschung wird, kann man schon von sich und seiner Kreativität erwarten. Wir haben ja sonst so selten Grund zur Freude. Nach all diesen fundierten Überlegung entscheiden wir uns dann doch wieder für die altbekannten Badekugeln, Handcreme, Socken, flache Bestseller Romane – wenn alle es gut finden, muss es ja gut sein, wenn nicht ist eben dieser verdammte Massengeschmack schuld –, Gutscheine für diverse unnötige Unternehmung, die einzulösen wir „leider immer vergessen“ und natürlich Süßigkeiten, die wir nach Neujahr verbacken oder ganz hinten in die Schränke schieben, weil Omas Plätzchen ihre Aufgabe unsere Körper auszudehnen schon zur Genüge erfüllt haben.
Eine weitere Herausforderung stellen natürlich die gezwungen gemütlichen Abende mit der Familie dar, während derer alle versuchen besonders nett zu sein, aber gnadenlos in die Heuchelei abrutschen und die überportionierten Weihnachtsessen das „Fest der Liebe“ zum Fest der Völlerei mutieren lassen: Man gönnt sich ja sonst nichts. Ja, ich könnte all diese sich zyklisch wiederholenden Sprüche, Traditionen und Reizüberflutungen ertragen, wenn nicht alle meinten ständig darüber reden und schreiben zu müssen.
Lilli Wallot (MSS12)
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